Die Kraftprinzipien:
Befreie dich von deiner eigenen Kraft.
Befreie dich von der Kraft deines Gegners.
Nutze die Kraft des Gegners.
Füge deine eigene Kraft hinzu.
Die Kampfprinzipien:
Ist der Weg frei, stoß vor.
Ist der Weg versperrt, bleib kleben.
Ist die Kraft des Gegners zu groß, gib nach.
Weicht der Gegner zurück, folge.
Der beste Kampf ist ein vermiedener.
Die beste Verteidigung ist Gegenangriff.
Dies sind nur einige Beispiele von sogenannten Kuen Kuits.
Techniken
Im Wing Chun wurden alle Techniken auf ihre Wirkung hin maximiert. Die Bewegungen sind meist kurz und gerade (also entlang einer Geraden). In der Regel wird keine
starre Muskelkraft, sondern die Elastizität des eigenen Bewegungsapparates ausgenutzt. Dies geschieht durch eine Kombination aus Gewichtsverlagerung (Schritttechniken) und spontaner schneller
Streckbewegung (Peitschenkraft) mit einem relativ kleinen Anteil eigener Muskelkraft.
Ein typisches Element einiger Wing-Chun-Stile ist der Kettenfauststoß. Man sagt, ein geübter Wing-Chun-Kämpfer könne davon etwa acht bis zehn Schläge pro Sekunde
ausführen. Darüber hinaus entfalten alle Techniken erst in der Kombination miteinander ihre volle Wirkung, wobei es letztlich unerheblich ist, ob Fauststöße oder Handflächenschläge zum Einsatz
kommen. Die Kraft des Gegners wird durch Schritttechniken, wie Wendungen, neutralisiert und gegen ihn verwendet (Gleichzeitigkeit von Angriff und Abwehr): Der Angriff ist die Verteidigung. Ein
Schlag des Gegners wird so beispielsweise durch einen konternden Gegenschlag abgewehrt.
Der Stil ist weiterhin durch seine Trittarbeit charakterisiert, die nur sehr wenige Grundtritte umfasst und mit der im allgemeinen nur niedrige Ziele bis etwa zur
Höhe der Hüfte angegriffen werden. Ziele dieser Tritte sind insbesondere Kniegelenk, Oberschenkelansatz und Unterleib des Gegners.
Waffen
Wing Chun war ursprünglich eine Kampfkunst ohne Waffen. Im späten 17. Jahrhundert erweiterten Wong Wah Bo (Schüler von Leung Bok Chow, dem Ehemann der Stilgründerin
Yim Wing Chun) und Leung Yee Tai (Schüler des auf der roten Dschunke untergetauchten Shaolin- Mönchs Chi Sim) den Kung-Fu-Stil um zwei Waffenformen:
Langstock (Luk Dim Boon Kwun)
Kurzschwerter (Baat Jam Do / Dao)
Die Übungen und Formen wurden den Idealen des Wing Chun angepasst.
Historische Dokumente hierzu sind nicht überliefert. Wong Wah Bo wird in vielen anderen Entstehungslegenden anderer Stile (z.B. Hung Kuen) erwähnt. Seine Existenz
ist weder belegt noch widerlegt. Er spielt in nahezu allen Wing Chun- Legenden eine Schlüsselrolle.
Berücksichtigung anderer Kampfsysteme
Bei einem Wing-Chun-Kämpfer ist es nicht von Bedeutung, welchen Stil der Aggressor hat. Ein Straßenkämpfer, welcher keinen bekannten Kampfstil hat, bzw. seinen
eigenen freien Kampfstil entwickelt hat, ist von den potentiellen Aggressoren am gefährlichsten einzustufen. Daher lernt der Kämpfer im Wing Chun, sich so vor dem Angreifer zu positionieren, dass
alle möglichen Angriffsvarianten des Gegners im Vorfeld schon gestört werden: Man versucht, möglichst früh mit dem Aggressor Kontakt aufzunehmen. Im Chi-Sao-Training lernen die Schüler, die Kraft
des Angreifers zu „erfühlen“ und dementsprechend zu reagieren, um möglichst wenig darauf angewiesen zu sein, Angriffe optisch zu erkennen. Dabei befolgt er die Regeln der vier Kampf- und
Kraftprinzipien (siehe oben).
Unterricht und Training
Der Unterricht im Wing Chun ist von Partnerübungen dominiert, bei dem die Trainingspartner bestimmte Bewegungsmuster eines Kampfes wiederholen, oder er findet an
einem hölzernen Trainingsgerät, dem Muk Yan Jong statt. Je nach Erfahrung der Übenden variiert dabei Geschwindigkeit, Intensität wie auch Komplexität der Übungen bis hin zum Freikampf/Sparring.
Ziel dieser Übungen ist es, den Lernenden durch langsame und sich oft wiederholende Bewegungsabläufe bestimmte Bewegungsmuster einzuschleifen, die im Ernstfall unbewusst abgerufen werden können.
Einen Schwerpunkt legt das Wing Chun auf das sog. Chi Sao, ein Gefühlstraining, welches ermöglicht, auf bestimmte Berührungen und Impulse eines Trainingspartners oder Gegners sehr schnell und
reflexartig zu reagieren. Obwohl die Grundlagen des Wing Chun schnell erlernbar sind, erfordert gerade dieses Gefühlstraining jahrelange Übung, damit es sinnvoll in einem Kampf zum Einsatz kommen
kann. Somit ist die schnelle Erlernbarkeit des gesamten Systems nur bedingt korrekt.
Formen
Die ersten Grundlagen des Wing Chun werden in den Formen erlernt und geübt. Formen sind festgelegte Abfolgen von Techniken, die jeder Schüler alleine durchführt. Die
Formen in den chinesischen Kampfkünsten entsprechen ungefähr dem, was in den japanischen Kampfkünsten als Kata bekannt ist. Die Reihenfolge und Anzahl der Formen ist in den verschiedenen Wing
Chun Familien oftmals sehr unterschiedlich. In manchen Wing Chun Familien wurden Formen hinzugefügt, in anderen werden einige Formen nicht unterrichtet.
Die bekanntesten Formen sind:
Siu Nim Tao / Siu Lim Tao (die „Kleine Idee“): Es werden die grundlegenden Armtechniken isoliert für sich oder in einfachen Kombinationen geübt. Beintechniken (IRAS)
kommen hier in Form des stabilen Standes vor. Ein wichtiger Aspekt dieser Form ist die Haltung und das Verhältnis von Spannung und Entspannung. So enthält diese Form acht Sätze.
Chum Kiu / Cham Kiu („Suchende Arme“ / „eine Brücke bauen“): Basistechniken mit ersten Fußtechniken. Hier werden verschiedene Techniken in Kombinationen geübt,
insbesondere das Zusammenspiel von beiden Armen, Beintechniken und Schritttechniken.
Bju Tse / Biu Tze („Stoßende Finger“): Bisweilen als Notfall-Form bezeichnet, in der Techniken erlernt werden, um aus ungünstigen Kampfpositionen in aussichtsreiche
zurückzugelangen.
Mok Jan Chong / Muk Yan Jong („Holzpuppe“): Dient als Ersatz für einen Trainingspartner und zum intensitätsorientierten Training. Bewegungen werden hier einstudiert
und Fehler beseitigt.
Luk Dim Bun Guan / Luk Dim Ban Kwun („Langstock“)
Pa Cham Dao / Bart Cham Dao („Doppelkurzschwerter“, „Doppelmesser“ oder „Schmetterlingsmesser“)
In der Entwicklungsgeschichte des Wing Chun haben viele Lehrer immer wieder Weiterentwicklungen und Änderungen im Detail und im gesamten Ablauf eingeführt. In den
verschiedenen Stilvarianten des Wing Chun existieren deshalb recht unterschiedliche Varianten der Formen. Diese Unterschiede spiegeln natürlich auch unterschiedliches Verständnis und
Interpretation der Techniken und Prinzipien wider.
Auch heute noch werden zuweilen Änderungen in der Ausführung eingeführt, was mit der Lebendigkeit der Kampfkunst erklärbar ist. Hierzu gibt es
Meinungsverschiedenheiten bei den Anhängern verschiedener Stilrichtungen. Insider können an Details der Ausführung erkennen, bei wem der Schüler gelernt hat.
Chi Sao
Ein essentieller Bestandteil des Wing Chun ist das Chi Sao („Klebende Hände“). Chi Sao trainiert in erster Linie die taktilen Reflexe und außerdem Standfestigkeit
und Balance, den richtigen Abstand zum Gegner in der Nahdistanz. Erstgenannte sensibilisieren das Gespür für Lücken in der gegnerischen Abwehr, wodurch auch das aktive Provozieren von Fehlern
beim Gegner ermöglicht wird. Chi Sao ist keine eigenständige Technik für den freien Kampf, sondern ein Trainingshilfsmittel. Die Besonderheit am Chi Sao ist, dass der Schüler von den langsameren
visuellen Reflexen weg zur taktilen Wahrnehmung hin erzogen wird. Es wird hier davon ausgegangen, dass es in der Nahdistanz, die oft auch als „Trappingdistanz“ bezeichnet wird, nicht mehr
rechtzeitig möglich ist, gegnerische Aktionen visuell zu erkennen und abzuwehren. Daher wird mit dieser Trainingsmethodik der Kontakt zum Gegner ausgenutzt, um dessen Aktionen über den
schnelleren Sinn der Taktilität erkennen zu können.
Beim Chi Sao stehen sich zwei Trainingspartner in einer festgelegten Ausgangsstellung gegenüber und nehmen mit den Armen Kontakt zueinander auf. In der Regel wird
dann mit festgelegten Anfangsbewegungen (z. B. „rollende Arme“) begonnen, worauf dann zu freier Anwendung verschiedener Techniken übergegangen wird. Chi Sao kann entweder als feste Folge von
Techniken mit verschiedenen Übergängen trainiert werden, die dann frei variiert werden können, oder es wird das sogenannte Go Sao trainiert, welches eine Art Sparring auf Chi-Sao-Distanz
darstellt. Hierbei gibt es keinerlei Regeln zu Abläufen, es ist ein freier Kampf in der Nahdistanz.
Chi Sao wird in den verschiedenen Wing Chun Familien unterschiedlich praktiziert.
Legende von der Shaolin-Nonne und ihrer Schülerin Yim Wing Chun
Gemäß mündlicher Überlieferung waren während der Qing-Dynastie (1644-1911) die Shaolinmönche aufgrund ihrer Kampfkunst derart berühmt, dass sich der
damalige Kaiser Kangxi Sorgen um seinen Einfluss machte und beschloss, die Mönche zu töten und das (südliche) Shaolinkloster zu vernichten. Dies misslang, da die Mönche starken Widerstand
leisteten. Der Beamte Chan Man Wai wollte sich einen Namen verschaffen und schmiedete einen Plan, für den er sich u. a. mit Ma Ning Yee verschwor, welcher das Kloster von innen heraus in Brand
setzte. Dabei kamen die meisten Klosterbewohner ums Leben. Die buddhistische Meisterin Ng Mui, der Abt des Klosters Meister Chi Sin mit den meisten Schülern, Meister Pak Mei, Meister Fung To Tak
und Meister Miu Hin konnten entkommen. Sie waren die Führer der fünf Shaolin-Stile und wurden die „Fünf Älteren“ genannt.
Die Authentizität dieser Überlieferung ist umstritten. Kangxi war eher ein Unterstützer zumindest des nördlichen Shaolinklosters, wie eine über dessen
Eingang angebrachte Kalligraphie noch heute belegt.
Nach der Zerstörung des Klosters trennten sich die Überlebenden, um der Mandschu-Regierung leichter zu entkommen. Meister Chi Sim nahm eine Tarnidentität
als Koch auf einer „Roten Dschunke“ an. So wurden Transportschiffe einer Operntruppe bezeichnet, die üblicherweise mit roter Farbe gestrichen und bunten Fahnen geschmückt waren. Die Nonne Ng Mui
dagegen ließ sich im Weißer-Kranich-Tempel am Tai-Leung-Berg nieder, wo sie sich der Kampfkunst und dem Chan widmen konnte.
Am Marktplatz eines nahen Dorfes lernte Ng Mui ein junges Mädchen namens Yim Wing Chun und deren Vater Yim Yee kennen, welche dort Tofu verkauften. Die
beiden waren aus ihrer Heimat in der Provinz Kwantung geflüchtet, da Yim Yee in eine Gerichtssache verwickelt war (man sagt, unschuldig), die ihn das Leben hätte kosten können. Als Schüler des
Shaolin-Klosters hatte er einige Kampftechniken erlernt und sorgte in seiner Gegend für Gerechtigkeit. Die resultierenden Schwierigkeiten zwangen ihn, seine Heimat zu verlassen und sich am
Tai-Leung-Berg niederzulassen. Der Legende nach hat die Kampfkunst dem Mädchen Yim Wing Chun seinen Namen zu verdanken.
Die heranwachsende Yim Wing Chun zog den im Ort als einen notorischen Schläger bekannten Wong derart an, dass er um ihre Hand anhielt. Doch sie war schon
als kleines Kind Leung Bok Chau, einem Salzkaufmann aus Fujian, versprochen worden. Wong schickte einen Boten, setzte Yim Wing Chun eine Frist und drohte, Gewalt anzuwenden, falls sie sich ihm
verweigerte. Vater und Tochter lebten von nun an in großer Sorge, da niemand im Dorf Wong, dem Kampfkünstler und Mitglied einer Geheimgesellschaft, gewachsen war.
Ng Mui erkannte als regelmäßige Kundin Yim Yees, dass die beiden von Sorgen gequält wurden. Schließlich erzählte Yim Yee von Wong. Ng Mui beschloss, Yim
Wing Chun zu helfen, wollte den Bösewicht aber nicht selbst bestrafen, da sie ihre Tarnidentität nicht aufgeben wollte und ein Kampf zwischen ihr, der Meisterin aus dem Shaolin-Kloster, und einem
Dorfschläger unfair und ruhmlos gewesen wäre. Deshalb brachte sie Yim Wing Chun ihre neue Kampfkunst bei. Nach nur drei Jahren Privatunterricht hatte diese das neue Kampfsystem gemeistert. Ng Mui
schickte sie nach der Ausbildung im Weißer-Kranich-Tempel zurück zu ihrem Vater. Sofort wurde Yim Wing Chun wieder von Wong bedrängt, doch dieses Mal forderte sie ihn zum Kampf auf. Der Rowdy war
sich seines Sieges sicher, sollte sich aber getäuscht haben, denn Yim Wing Chun schlug ihn zu Boden.
Nachdem Yim Wing Chun den Schläger besiegt hatte, setzte sie ihr Training fort. Als Ng Mui beschloss, weiterzureisen, ermahnte sie Yim Wing Chun, einen
würdigen Nachfolger zu finden und nur die richtigen Schüler zu unterweisen. Diese Mahnung wurde auch von den folgenden Generationen befolgt.